Stärken und Schwächen

In meinem letzten Beitrag hatte ich über das Thema Fokus geschrieben. Das heutige Thema hängt eng damit zusammen, denn auch hier geht es eigentlich darum, worauf ich meinen Fokus lege.

Hand aufs Herz: wer von euch könnte mir aus dem Stegreif 10 Stärken von sich voller Inbrunst auf Anhieb nennen, ohne Nachdenken zu müssen? Und wie würde die Frage ausgehen, wenn ich nach den Schwächen frage? Vermutlich wäre es für die wenigsten im zweiten Fall ein Problem, auf deutlich mehr Punkte zu kommen wie bei der ersten Frage.

Ich hatte erst letzte Woche zwei Coachinggespräche, bei denen es im Grunde um eine berufliche Neuorientierung ging. Bei beiden passierte folgendes: nachdem ich gefragt hatte, was die betreffenden Personen denn für Stärken hätten, um im Anschluss zu schauen, in welche berufliche Richtung man denken könnte, war Stille im Raum. Nach langem Zögern kam bei der ersten Person eine Stärke, dann herrschte Schweigen. Im zweiten Gespräch kamen mit viel Zeit und Nachdenken immerhin 5 Stärken zusammen. Als ich dann fragte, was denn Freunde oder Partner mir erzählen würden welche Stärken sie hätten, schauten mich beide an als ob ich sie nach dem genauen Datum des Weltuntergangs gefragt hätte.

Dieses Erlebnis hat mich sehr nachdenklich gemacht. Warum sind wir eigentlich immer nur auf das fokussiert, was wir nicht können, anstatt stolz auf das zu sein, was wir richtig gut sein können? Schnell kam ich auf typische Sätze, die man zu hören bekommt, wenn man in unserer Gesellschaft zu sehr den Fokus auf das eigene Können lenkt. „Eigenlob stinkt“, „Einbildung ist auch eine Bildung“, „Hochmut kommt vor dem Fall“ und ich bin sicher, dir fällt noch der ein oder andere Ohrfeigen-Satz ein, den wir entgegengeschleudert bekommen, wenn wir uns einmal laut auf unsere Stärken besinnen.

Zur Sicherheit ein kleiner Einschub: es geht mir hier nicht darum, alle zu einer narzisstischen Selbstbeweihräucherung anzuleiten. Vielmehr geht es mir um eine ehrliche und wirkliche Anerkennung dessen, was jeder Einzelne wirklich gut kann. Denn wenn ich voller Überzeugung weiß, was ich wirklich kann, dann gehe ich ganz anders durchs Leben, habe eine andere Ausstrahlung, arbeite in Bereichen, die mir liegen und bin im allgemeinen glücklicher.Und ich bin in meinem Selbstwert nicht mehr so abhängig von dem, was meine Umwelt mir zurückmeldet, sondern gewinne diesen aus mir selbst und dem Wissen um meine Stärken.

Der Nebeneffekt ist dass ich, wenn ich bei mir selbst den Fokus auf meine Stärken und mein Können lege, diese auch bei meinem Gegenüber viel mehr wahrnehme und nicht mehr nur auf seine Schwächen fokussiert bin. Dadurch sehe ich ihn plötzlich mit ganz anderen Augen und die nervige Person wird vielleicht sogar plötzlich faszinierend, weil sie bisher mir unbekannte Seiten hat, vielleicht sogar Stärken die ich bisher nicht gesehen habe aber mit denen sie mich aktuell in meiner momentanen Lebenssituation gut unterstützen kann.

Ein konsequenter Blick auf die Stärken und Ressourcen hat noch einen anderen Aspekt. Wenn man Stärken hervorhebt, dann werden automatisch die Schwächen abgebaut. Zum einen werden sie von den immer stärker werdenden Stärker oftmals überdeckt oder ausgeglichen. Zum anderen entwickelt man sich schneller und effektiver in die Richtung, in die man möchte. Das hat zum einen mit dem Fokus zu tun, den ich eingangs schon erwähnt hatte. Zum anderen mit einem schlichten Motivations-Effekt. Was glaubt ihr, welches Kind macht schneller Fortschritte und ist gewillter zu üben, wenn es ein Instrument lernt. Kind A, dessen Lehrer ihm in jeder Unterrichtsstunde erklärt, was er falsch gemacht hat, was er noch nicht kann und was er noch alles lernen müsste, um überhaupt einmal halbwegs ein Stück spielen zu können. Oder Kind B, dessen Lehrer ihn jedes Mal dafür lobt, was es dazugelernt hat, wie weit es sich schon entwickelt hat und ihm vor Augen führt, welchen Weg es bereits zurückgelegt hat und wie gut er zwischenzeitlich schon sein Instrument beherrscht? Die Motivation von Kind A wird aus der Angst gespeist, wieder nicht genügen geübt zu haben. Und irgendwann, wenn weiter nur Kritik kommt, das Üben aufgeben. Denn egal wie sehr es sich anstrengt, der Lehrer wird ja doch wieder nur Dinge finden, die es noch nicht kann. Kind B hingegen geht voller Selbstbewusstsein aus der Stunde und wird sich darauf freuen, in der nächsten Stunde wieder mehr zu können und daher vielleicht nicht mehr üben, wie Kind A, aber wenn es übt, dann mit viel Spaß und Motivation, wodurch der Lerneffekt viel größer ausfallen wird. Denn unser Gehirn lernt am schnellsten in einem positiven und entspannten Zustand und nicht, wenn es unter Stress steht.

Und ein weiterer positiver Nebeneffekt ist, dass man durch die Fokussierung auf das Positive auch selbst glücklicher und zufriedener wird.

Da es den meisten Menschen am Anfang leichter fällt, Stärken der anderen zu erkennen, probiert doch einfach einmal aus, konsequent nur die Stärken in eurem Gegenüber zu sehen. Und vielleicht bekommt auch ihr irgendwann einmal gesagt „du siehst aber auch in jedem noch das Positive“.

Aber vergesst euch selbst nicht. Denn an dem zwischenzeitlich vielleicht etwas abgedroschenen Spruch, dass man nur andere lieben kann, wenn man sich selbst liebt, ist sehr viel Wahrheit dran. Was sind eure Stärken? Fangt einmal an, diese für euch selbst aufzuschreiben. Und wenn euch nichts einfällt, dann macht euch auf den Weg und fragt euer Umfeld. Eure Freunde, eure/n Partner/in, eure Familie, eure Kollege usw. Ihr werdet vielleicht das ein oder andere Mal positiv überrascht sein, was andere in euch für Stärken sehen, die ihr nicht einmal bemerkt habt.

Ich bin neugierig, wie es euch mit dem kleinen Experiment ging. Schreibt mir doch eure Erfahrungen dazu, wie immer entweder als Kommentar unter den Blog, per Mail oder über Facebook.

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