Risse und Macken als Chance

Vor kurzem wurde ich nebenbei in einem Gespräch, dass sich eigentlich auf etwas ganz anderes bezog, auf etwas aufmerksam. Ein Bekannter erzählte mir, dass er sich auf einem Markt eine Holzflöte gekauft hatte. Allerdings sei diese auf Grund der dort herrschenden Witterungsbedingungen beschädigt gewesen und habe Risse gehabt. In diesem Zustand ist es nicht möglich, die Flöte zu spielen, da die Luft entweicht und somit kein Klang erzeugt wird. Er hat dann die Risse mit Harz ausgebessert und die Flöte nochmal abgeschliffen. Und dann kam der Satz, der mich aufhorchen ließ und sehr nachdenklich gemacht hat. Er meinte „Weißt du Miriam, dadurch wird die Flöte nicht nur optisch einzigartig, sondern sie erhält dadurch, dass sie die Risse hatte die jetzt geflickt sind, einen ganz einzigartigen und individuelle Klang.“


Was ein Satz! Dadurch, dass die Flöte eigentlich beschädigt war, wurde sie einzigartig – im Aussehen wie im Klang.


Könnt ihr erahnen, was das auf unser Leben übertragen heißt? Wie oft hadern wir und wünschen uns ein Leben, in dem alles gut läuft, wir keine Schmerzen, Rückschläge und Misserfolge erleben müssen oder mussten?

Aber was wären wir als Person, wenn wir tatsächlich nie einen „Riss“ abbekommen würden? Wir wären ein Massenprodukt, dass sich nicht von anderen unterscheidet. Eigentlich werden wir erst durch all unsere kleinen und großen Risse und Wunden einzigartig und zu genau der Person, die wir sind.


Aber es steckt noch ein zweiter Aspekt in dieser Erzählung. Entscheidend war, dass der Besitzer der Flöte diese liebevoll repariert hat. Er hat sie nicht einfach nur als kaputt angesehen und als reines Dekoaccessoire behandelt oder gar entsorgt. Er hat ihren Wert trotz der Risse gesehen und sie wieder spielbar gemacht – um sie damit noch wertvoller zu machen.

Von dieser Haltung können wir so unendlich viel für uns selbst lernen. Wie oft schauen wir auf unsere Risse und Macken und verdammen diese. Sei es ein „Riss“ im Herzen durch die Enttäuschung durch eine andere Person oder eine äußere Macke, die wir am liebsten wegoperieren lassen würden und uns sicher sind, dass wir genau deswegen weniger Wert sind. Wir stellen uns quasi selbst das Zertifikat „unbrauchbar“ oder „defekt“ aus.


Manche sind schon einen Schritt weiter und sagen sich immer wieder, dass das zum Leben dazugehört und niemand perfekt ist.


Aber das Bild der kaputten Flöte geht sogar noch einen weiter: nämlich genau das zu lieben und als einzigartig zu betrachten, was nicht gut an einem ist. Der eine oder die andere wird nun vielleicht denken „was für ein Blödsinn, wie und warum sollte ich das denn lieben? Ist es nicht wichtiger, daran zu arbeiten, dass das weggeht?“


Der entscheidende Faktor ist beides. Zum einen natürlich daran zu arbeiten, dass die Risse geschlossen werden. Denn wenn man die kaputte Flöte nur bewundert hätte, wäre sie bis heute nicht spielbar. Das heißt sich eben nicht in Selbstmitleid zu verkriechen, sondern seine eigenen kleinen Risse und defekten Stellen ausbessern, damit man wieder handlungsfähig wird. Heißt konkret im Beispiel der Enttäuschung zu schauen, wie dies passieren konnte und was ich daraus für das nächste Mal lernen kann. Ggf. auch – wenn bspw. ein wirtschaftlicher Schaden entstanden ist – diesen erst einmal zu beheben. Aber dann, wenn die Risse geschlossen sind und alles neu poliert wurde, sich nicht mehr darüber zu ärgern, sondern sich an der durch diese Risse und das Harz entstandenen Einzigartigkeit zu erfreuen und seinen eigenen, ganz individuellen Klang zu leben und zu genießen. Dieser ist eben einzig daraus entstanden, dass man im Laufe des Lebens Macken, Risse und Kratzer abbekommen hat. Das ist die Kunst im Leben.


Und wenn uns das gelingt, so werden wir zum einen uns selbst gegenüber milder und liebevoller, denn wir sehen dann unsere Einzigartigkeit und nicht mehr nur unsere Fehler. Zum anderen erkennen wir in allem, was uns widerfährt auch die Chance, unseren Ton weiter zu gestalten und noch einzigartiger zu machen.

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